17/6/21
Replik auf:
WOZ
Geschichte als Geschichten verstanden

Die WOZ beschreibt Brians Schicksal von Anfang an als eine Geschichte, die aus einem spezifischen Blickwinkel erzählt wird. Sie kritisiert wie einseitig dieser Blickwinkel und wie einfach diese Geschichte sei. Für sie liest sich das verbreitete Narrativ wie folgt:

Die Geschichte von Brian, vormals bekannt als «Carlos», wird gerne so erzählt: Er habe viele Chancen erhalten und keine genutzt. Schon als Kind renitent, habe er als jugendlicher Messerstecher die «Kuscheljustiz» verhöhnt – bis sich die Öffentlichkeit Gerechtigkeit verschaffte.

Damit wird in der WOZ anerkannt, dass sich der Fall „Carlos“ in erster Linie um mediale Profitgier, politischen Opportunismus und strukturellen Rassismus dreht und nur sekundär um die individuelle Situation eines jungen Mannes. Und nur so lassen sich die stereotypen Deutungsmuster in und um Brians Lebenslauf letztendlich durchbrechen; indem sie erkannt und benannt werden als das was sie sind: Geschichten. Narrative der Selbstbestätigung einer gewaltvollen Gesellschaft. Mythen der Selbstgerechtigkeit und Bequemlichkeit.

Der Spiegel „Carlos“

Danach wird Brians langer Weg durch die Institutionen nachgezeichnet. Es gelingt der WOZ anhand der Vorkommnisse der letzten 15 Jahre aufzuzeigen, worin das Versagen von Gesellschaft, Politik und Behörden in Brians Fall gelegen hat. Viel wichtiger als das benennen von konkreten Fehlern, ist die Perspektive die durch diese Nacherzählung eröffnet wird. Nämlich dass die Behörden allzu häufig nur Gewalt und Repression als Lösung kannten.

In der Zelle sitzt ein junger Mann im Kampfmodus, der Therapeuten, Aufseher, den Staat als seine Feinde betrachtet, sie beschimpft, bespuckt, bedroht. Ihm gegenüber steht ein hochgerüsteter Gefängnisapparat, der auf Brians Wut und Aggression mit brutalen Repressalien reagiert.

„Carlos“ ist nicht nur ein idealtypischer Gesellschaftsfeind, nein er ist auch das Spiegelbild ebendieser Gesellschaft, die gewalttätig, unbelehrbar und selbstgerecht ist. Und zwischen diesen identischen Fronten wird Brian bis heute aufgerieben.

Institutionelles Versagen

Die Situation ist verfahren. Auch vor Obergericht fühlte man sich nicht zuständig, zugunsten von Menschenrechten und der Verhütung von Folter einzuschreiten. Der WOZ-Artikel erkennt auch darin jedoch nicht einfach ein scheinbar auswegloses Dilemma, sondern fragt nach den Gründen und nach der Verantwortung.

Das Urteil wirft die unbequeme Frage auf: Wie einfach haben es sich Justiz und Gesellschaft bislang mit der Erzählung vom nicht resozialisierbaren Intensivtäter gemacht?

Die WOZ beschreibt den Fall „Carlos“ als das was er ist: Ein Ausdruck gesellschaftlicher Narrative von Staatsgewalt und Rassismus. Ventil für die Bedürfnisse einer an sich gewaltvollen Gesellschaft. Und nicht zuletzt Hinweis auf die nicht aufgearbeiteten strukturellen Defizite unserer demokratischen Organe in Rechtsstaat, Medien und Politik.