30/5/21
Replik auf:
Sonntagsblick
Aus objektiv mach subjektiv

Der Sonntagsblick widmet einen kurzen Artikel dem Gutachten des IRCT (International Rehabilitation Council for Torture Victims), das zum Schluss kommt, dass Brians Haftsituation als Folter qualifiziert werden muss. Obwohl dies nicht üblich und gerade vom BLICK überraschend ist, wird dieser komplexe Sachverhalt jedoch auf kurze Zusammenfassungen und Schlussfolgerungen reduziert, die nicht dem Gutachten entsprechen.

Das 20-seitige Gutachten der beiden Forensiker liegt SonntagsBlick vor. Es protokolliert den Gefängnisalltag eines jungen Mannes, der vor allem eines ist: einsam.

Diese Schlussfolgerung ist grundsätzlich nicht «falsch». Es liegt im Wesen der Isolationshaft, dass sie Einsamkeit für die Betroffenen mit sich bringt. Mit dem Titel «Ich bin alleine», erhebt der Sonntagsblick den Aspekt der Einsamkeit zum Hauptthema der Zusammenfassung dieses Gutachtens. Was auf den ersten Blick naheliegend scheint, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als problematisch.

Aus objektiv mach subjektiv

Laut Gutachten muss andauernde Isolationshaft als Folter qualifiziert werden, da sie auf verschiedenen Ebenen auf die Betroffenen einwirkt. Monotonie, Reizentzug (sensorische Deprivation), örtliche und zeitliche Desorientierung, Kontaktverweigerung, die Abschottung von allen äusseren Einflüssen, sind Umstände die sich objektiv beschreiben lassen.
Die «Einsamkeit» ist ein subjektives Empfinden, das neben vielen anderen Effekten von Isolation, in den Betroffenen ausgelöst wird. Verkürzt man also ein Gutachten zu den Auswirkungen der Isolationshaft auf «Ich bin alleine» oder «einsam», wird aus einer objektiven Beschreibung ein subjektives Klagen. Dieses «Klagen» ist gegenüber öffentlicher wie auch staatlicher Kritik viel vulnerabler, als eine auf Expert:innen-Wissen basierte und angemessene Darstellung der Haftbedingungen.

Verengung der Perspektive

Zwar werden Brians Schilderungen im Artikel durchaus gewürdigt und auch das Fazit der Gutachter wird in diesem Zusammenhang erläutert. Doch durch die Vereinfachung auf das subjektive Empfinden der Einsamkeit, geht in der öffentlichen Debatte verloren, wie die Isolationshaft im Falle von Brian aber auch generell strukturell und systematisch höchstproblematische Auswirkungen nach sich zieht. Diese Perspektive ist notwendig, um weitreichendere (öffentliche) Debatten diesbezüglich führen zu können. Dabei geht es auch um kritische Fragen wie: Welche Verfügungen und Massnahmen der Behörden sind in Kraft um ebendiese – im Gutachten objektiv geschilderten – Umstände aufrecht zu erhalten?

Es wäre an dieser Stelle angemessen zu hinterfragen, ob solche Formen der institutionellen Gewalt gerechtfertigt sind. Stattdessen wird – wenn auch ein bisschen subtiler – ein altbekanntes Narrativ reproduziert: dass Brian – so wie es «Carlos» auch tat – sich einmal mehr «beklagt». Wir erinnern uns, welches Medium diesen BLICKwinkel auf strukturelle Mängel in Brians Fall etabliert hat.